Die Mitteldeutsche Zeitung und der Tod von Yangjie Li

Lesedauer: circa 4 Minuten

Wie die Mitteldeutsche Zeitung mit einem Mord umgeht und dabei vieles richtig macht. Wir erklären sechs gute Entscheidungen der Redaktion.

Am Abend des 11. Mai, ein Mittwoch, wird in Dessau-Roßlau die chinesische Studentin Yangjie Li ermordet. Für die Stadt ist die Tat ein Schock – auch vier Wochen später bewegt sie noch die Menschen in ganz Sachsen-Anhalt. Als einzige regionale Tageszeitung vor Ort begleitet die Mitteldeutsche Zeitung die Vorgänge von dem Moment an, an dem sie öffentlich werden: Die erste Meldung datiert vom Morgen des 13. Mai und thematisiert die Suche nach der zu jenem Zeitpunkt noch Vermissten.

Von Anfang April bis Ende Mai haben wir von Lesewert die Arbeit der Dessauer Lokalredaktion und ihrer Kollegen in Merseburg, Bitterfeld und in den Mantelredaktionen in Halle begleitet. In den letzten drei Wochen stand auch diese Zusammenarbeit im Zeichen des Schicksals von Yangjie Li – und der journalistischen Herausforderung, wie mit dem Unfassbaren umzugehen ist. Nicht nur die außergewöhnlich hohen Lesewerte verdeutlichen, dass die verantwortlichen Lokal- und Mantelredaktionen der MZ in diesen schwierigen Tagen sehr viele Entscheidungen im Sinne ihrer Leser getroffen haben:

Entscheidung 1: Lokales Thema öffnen

Schon der erste MZ-Aufmacher am 14.5. auf Seite 1 öffnet das Dessauer Thema für Leser im ganzen Verbreitungsgebiet. Der Vortext in der Printausgabe endet mit der Frage: „Gibt es Parallelen zu einem Fall in Halle?“ Lesewert: 72,8 %. (Normalerweise sprechen wir ab 30 % von einem gut gelesenen Text. Lesewerte jenseits der 60 % sind selten.)

Entscheidung 2: Konsequent dranbleiben

Vom ersten Tag an begegnet das Thema den MZ-Lesern fast täglich, auch im ersten Buch. „Es ist eine mutige Entscheidung, einen lokalen Kriminalfall immer wieder im Mantel und auf Seite 1 aufzugreifen“, sagt Lesewert-Coach Georg-Dietrich Nixdorf, der in dieser Zeit mit der Redaktion zusammengearbeitet hat. „Dafür braucht es ungewöhnliche Blickwinkel und immer wieder relevante Neuigkeiten. Beides hat sich die MZ in beeindruckender Weise erarbeitet. Die Leser haben es ihr gedankt.“

  • In 11 der 14 Ausgaben zwischen 14. und 31. Mai wird der Fall auf der Titelseite aufgegriffen, davon 8 Mal als Aufmacher.
  • 15 weitere, zum Teil sehr ausführliche, Stücke erscheinen in dieser Zeit auf den Seiten 2 („Der Tag“) und 3 („Mitteldeutschland“, siehe Bild). Sie weiten den Fokus auf die Folgen für den Studienstandort Sachsen-Anhalt und die Reaktionen auf den Fall in China, begleiten die Ermittlungsarbeit und widmen sich eindringlich den Emotionen der Menschen in Dessau.
  • Kaum ein Lesewert landet unter 50 %, kaum ein Durchlesewert unter 90 %.

Entscheidung 3: Dem Leser Arbeit abnehmen

Strukturierte Texte helfen dem Leser, schneller zu den Informationen zu gelangen, die ihn interessieren. Im Mantel setzt die MZ dieses Mittel sowieso häufig ein. Nun auch im Fall Yangjie Li, z. B. am 17.5. in „Ein Mord und viele Fragen“ auf Seite 1. Lesewert: 56,9 %.

Entscheidung 4: Nähe zu den Menschen und ihren Emotionen schaffen

  • Am 17.5. erscheint auf Seite 3 die Reportage „Tod im fremden Land“, die sich mit der Angst und Verunsicherung der Dessauer auseinandersetzt.
  • Zweimal füllen Texte mit sehr persönlichen Einblicken die komplette Seite 3: „Ermordet und entehrt“, zu den Gedanken der Familie des Opfers, am 26. Mai und
  • „Wir sind am Boden zerstört“, ein Interview mit den Eltern des Tatverdächtigen, am 28. Mai.
  • Gefühle schildern, Nähe herstellen, von Menschen erzählen – das wird auch über lange Strecken mit Durchlesewerten von 90 % und mehr belohnt.

Entscheidung 5: Starke Überschriften und Vortexte

Auch wenn der Leser bei einem so starken Thema kaum zum Lesen überredet werden muss, sollte die Präsentation nicht vernachlässigt werden. Die MZ findet Tag für Tag Überschriften, die berühren, und Vortexte, die in den Artikel ziehen:

  • „Das Unfassbare“
  • „Sechs weiße Rosen“
  • „Eine Stadt nimmt Abschied“
  • „Halt im Leid“
  • „Der Schmerz ihrer Eltern“
  • „Sind das die Killer von Dessau?“
  • „Warum die Eltern der toten Studentin über die Staatsanwaltschaft empört sind.“
  • „Ein Brief des Entsetzens“
  • „Die Stadt gilt ihnen als Studienort erster Wahl. Doch wie lange noch?“

Entscheidung 6: Perspektiven wechseln

Aus welcher Richtung kann das Thema beleuchtet werden? Welche Protagonisten sind spannend für den Leser? Die MZ umkreist das Thema konsequent, ohne außen vor zu bleiben und findet immer wieder neue Ansätze – in einem freilich sehr facettenreichen Fall. Unter anderem diesen Themen widmen sich die Redakteure, aus lokalem wie regionalem Blickwinkel:

  • der Ermittlungsarbeit
  • den Tatverdächtigen
  • den Verbindungen des Falls zu anderen ungeklärten Morden
  • den Reaktionen in der chinesischen Community und in China
  • der Situation der Familien von Opfer und Tatverdächtigen
  • der Rolle der Hochschule und eines Professors als Betreuer der chinesischen Familie
  • der Polizeiarbeit, die sich zu einer Kontroverse entwickelt
  • der Anteilnahme und den Emotionen der Dessauer
  • der Experten-Sicht eines Profilers

Auch jetzt, Mitte Juni, ist das Thema in Dessau und im MZ-Verbreitungsgebiet noch hochaktuell. Die Folgen der Tag, die Ermittlungen und die persönlichen Verwicklungen von Familienmitgliedern der Tatverdächtigen werden von der MZ weiterhin kritisch begleitet.

Online widmet sie dem Thema ein Special, das laufend um starke Beiträge ergänzt wird und in dem eine Chronologie der Ereignisse gepflegt wird.

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